Das Streben nach Perfektion ist für manche wünschenswert, für andere die unerfüllbare Utopie. Vor allem im Job begegnet man häufig Kollegen, die sich stolz als Perfektionisten beschreiben. Dahinter steckt allerdings nicht unbedingt der krankhafte Perfektionismus, der jeden Aspekt des Lebens erfüllt und bestimmt. Doch wie lässt sich Perfektionismus erkennen? Und wann wird Perfektionismus zur Krankheit und zum Zwang?
Was bedeutet Perfektionismus
Perfektionismus beschreibt das verstärkte Streben nach Vollkommenheit (Perfektion). Grundsätzlich sind charakterliche Eigenschaften von Perfektionisten nicht unbekannt. Hohe Ansprüche an sich selbst, hohe Standards und Anforderungen an andere und allgemein hohe Ziele prägen das Bild eines Perfektionisten. Perfektionismus kann also sein, seine bestmöglichen Optionen sinnvoll ausschöpfen zu wollen und den Weg dabei optimal bestreiten zu wollen. Diese Sicht auf Perfektionismus ist durchaus positiv. Die hohe Leistungsbereitschaft und durchdachte Organisation von Perfektionisten treibt sie im besten Fall zu großen Erfolgen ꟷ im Beruf oder im Leistungssport.
Merkmale von Perfektionismus sind allerdings nicht immer rein der Ambition der Betroffenen geschuldet, sondern entspringen häufig Versagensängsten. Die Sorge zu scheitern oder sich vor anderen die Blöße zu geben, treibt Perfektionisten im negativen Sinne an. Ihre eigenen hohen Ansprüche zu erfüllen oder den Erwartungen der anderen zu entsprechen, setzt Perfektionisten mental unter starken Druck. In diesem Fall wirkt sich der Perfektionismus negativ auf die Psyche und mentale Gesundheit aus. Wie lässt sich das eine Erscheinungsbild des Perfektionismus nun vom anderen trennen?
Funktionaler und dysfunktionaler Perfektionismus
Die beschriebenen Charakteristika von Perfektionismus lassen sich in die Typen funktionaler und dysfunktionaler Perfektionismus unterscheiden. Funktionale Perfektionisten sind stets bemüht, eine Form der Vollkommenheit zu erreichen und streben nach hohen Leistungen. Wenn diese Ziele allerdings nicht erfüllt werden können, haben funktionale Perfektionisten die Fähigkeit, dies zu akzeptieren und lassen sich nicht negativ von einem gescheiterten Ereignis beeinflussen. Führen ihre Bemühungen aber zum Erfolg, sind sie stolz auf ihre Leistung.
Bei dysfunktionalen Perfektionisten stehen die Sorge und die Angst im Vordergrund der Bemühungen. Bei dieser Art von Perfektionismus ist das Selbstwertgefühl der Betroffenen stark mit der erwarteten hohen Leistung verknüpft. Werden Anforderungen nicht wie gewünscht oder erhofft erfüllt, vereinnahmen negative Gedanken die Betroffenen. Anerkennung durch andere glauben dysfunktionale Perfektionisten nur zu erhalten, indem sie Spitzenleistungen abliefern. Das Urteil anderer über ihre Erfolge oder Misserfolge hat also einen direkten Einfluss auf die Selbstwahrnehmung der Betroffenen.
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Krankhafter Perfektionismus
Dysfunktionale Perfektionisten sind übermäßig kritisch, vor allem mit sich selbst. Der ständige Leistungsdruck und die Angst zu versagen oder einen Fehler zu machen, bringt sie aus dem Gleichgewicht. Wie ein Perfektionist mit Misserfolg umgeht, ist entscheidend dafür, ob Perfektionismus krank macht oder nicht. Die unbefriedigende Leistung in einem Bereich wird nicht getrennt vom eigenen Selbst gesehen. Der Fehler liegt bei dysfunktionalen Perfektionisten in ihrer Person und sie überzeugen sich mental davon, dass Misserfolg in einem Bereich auch Misserfolg in anderen Bereichen mit sich zieht. Auf der anderen Seite kann ein dysfunktionaler Perfektionist in einem Bereich, beispielsweise beruflich, all seinen hohen Erwartungen nachkommen, im Sport und seinen Beziehungen aber seinen Ansprüchen nicht gerecht werden. Ein dysfunktionaler Perfektionist fühlt sich trotz hervorragender Leistung im Beruf dann dennoch wie ein Versager. Fehler und Misserfolge sind also keine Option und die Angst davor treibt dysfunktionale Perfektionisten in zwanghaftes Verhalten. Störungsbilder wie Essstörungen, Depressionen, Angst- und andere Zwangsstörungen gesellen sich im extremen Fall zu einer zwanghaften Kontrolle der eigenen Leistungen hinzu.
Ursachen und Symptome von Perfektionismus
Die stetige Angst und Sorge, nichts falsch machen zu wollen und nur durch vermeintlich perfektes Verhalten Anerkennung zu erlangen, kann durch die Prägung in der Familie schon in jungen Jahren gefördert werden. Perfektionistische Anforderungen oder kaum erfüllbare Erwartungen der Eltern an ihre Kinder verstärken solche Verhaltensmuster. Vereinigt sich die hohe Erwartungshaltung mit geringer Wertschätzung und emotionaler Kälte ist es wahrscheinlich, dass das Kind dysfunktionalen Perfektionismus entwickelt. Es lernt nicht, dass Fehler normal sind und zum Lernprozess dazugehören, verknüpft Erfolg mit Zuneigung und Misserfolg mit Ablehnung. Daher glaubt auch der erwachsene Perfektionist, Zuneigung und Wertschätzung nur zu verdienen, wenn er fehlerloses Verhalten an den Tag legt. Auch die gegenteilige Situation kann allerdings Perfektionismus hervorrufen. Bestehen keine festen Regeln oder Strukturen im gemeinsamen Zusammenleben, versuchen Kinder durch perfektionistische Verhaltensweisen ein gewisses Maß an Kontrolle zu erhalten.
Zusätzlichen Einfluss nehmen außerdem das charakterliche Temperament der betroffenen Kinder, wie auch ihre Veranlagung und Umweltfaktoren. Nicht nur das Elternhaus wirkt sich auf die Werte und das perfektionistische Verhalten von Kindern aus. Auch Institutionen wie die Schule und Freizeitaktivitäten, vor allem sportlicher Natur, können sich auf das Perfektionismus-Bestreben der jungen Menschen auswirken.
Bin ich krankhaft perfektionistisch?
Um herauszufinden, wie es um den eigenen Perfektionismus steht und ob man bereits in einem krankhaften, dysfunktionalen Perfektionismus gefangen ist, kann man sich ganz leicht einige Fragen stellen:
- Wann mögen mich Andere?
- Wann mag ich mich selbst?
- Kann ich Misserfolge akzeptieren?
- Kann ich auch Nein sagen?
- Lassen mich vergangene Fehler nicht mehr los?
- Nimmt mein Verhalten Einfluss auf andere Bereiche? (Schlaf/Ernährung/Beziehungen/etc.)
Ist die Akzeptanz anderer ausschließlich an das vermeintlich perfekte Verhalten des Selbst geknüpft, ist dies ein guter Hinweis auf krankhaften Perfektionismus. Dazu gehört auch, immer Ja zu sagen, um anderen zu gefallen. Langes Grübeln, das Auseinandernehmen vergangener Misserfolge oder die Sorge vor neuen Fehlern halten dysfunktionale Perfektionisten oft vom Schlafen ab. Dadurch hat das Verhalten einen direkten Einfluss auf die körperliche und mentale Beschaffenheit der Betroffenen.
Verhaltensweisen von Perfektionisten
Perfektionisten setzen sich mental enorm unter Druck. Unerfüllte Erwartungen und Anforderungen an sich selbst führt bei vielen Betroffenen zur Depression. Eine schwerwiegende Folge können Selbstmordgedanken sein, wenn das Gefühl, niemandem gerecht zu werden, überwiegt. Um diese negativen Szenarien zu umgehen, eignen sich Perfektionisten viele Verhaltensweisen an, die sie vermeintlich vor Misserfolg und Blamage schützen sollen. Dazu gehören unter anderem:
- Überkompensation (um Fehler im Voraus zu vermeiden)
- Exzessive Kontrolle (durch sich selbst oder andere)
- Übermäßige Organisation
- Hinauszögern
- Entscheidungsschwierigkeiten
- Nicht-fertig-werden
- Unfähigkeit zu delegieren
Viele dieser Verhaltensweisen geben Perfektionisten die Ausrede, Dinge nur selbst zu erledigen oder zielen darauf ab, Fehler von Grund auf zu vermeiden. Die Angst vor Fehlentscheidungen zögert Prozesse hinaus, lässt Perfektionisten eigene Projekte nicht beenden oder gar an andere abgeben. Sie wiederholen und planen exzessiv und bemühen sich, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein, um die Kontrolle in allen Situationen behalten zu können.
Gefahren und Auswirkungen von Perfektionismus
Die starke Belastung der ständigen Kontrolle und Erwartung von Höchstleistungen zwingt dysfunktionale Perfektionisten oft, über ihre Grenzen hinauszugehen. Das hat Erschöpfungssymptome wie Müdigkeit, Gereiztheit und im Endeffekt verringerte Leistungsfähigkeit zur Folge. Im schlimmsten Fall entwickelt sich ein Erschöpfungssyndrom oder weitere psychische Erkrankungen, wie Depressionen, Angststörungen, Zwänge oder Essstörungen. Möglich sind auch chronische Kopfschmerzen oder Burnout.
Perfektionismus überwinden
Eine Therapie kann helfen, Perfektionismus abzulegen. Sie ist aber nicht immer sofort notwendig, um gegen die eigenen perfektionistischen Verhaltensweisen anzukommen. Ein aktiver Ausgleich kann bereits zu mehr Entspannung und mentaler Balance verhelfen. Vielen Perfektionisten fällt es schwer, sich einfach zu entspannen und loszulassen. Es hilft sich bewusst zu machen, was einen entspannt und abschalten lässt und diese Aktivitäten bewusst in den Alltag zu integrieren. Auch das Bewusstmachen darüber, was die Erwartungshaltung anderer angeht und sich zu fragen, von wo der Druck, der verspürt wird, eigentlich ausgeht. Kommt er tatsächlich von außen, erwarten andere Perfektion von mir oder sind es meine eigenen Erwartungen, die ich nicht erfülle? Menschen, die Fehler machen und zu ihnen stehen, sind uns häufig sympathisch, wir können uns mit ihnen identifizieren. Perfektionisten, die sich dieser Tatsache bewusstwerden, fällt es oft leichter, sich von ihren eigenen Erwartungen zu lösen und zu verstehen, dass sie auch mit Fehlern und Misserfolgen gemocht und geliebt werden können.
Perfektionistische Verhaltensweisen loslassen
Entdeckt man perfektionistische Tendenzen bereits im Alltag, hilft es sich durch bewusstes Training mehr Akzeptanz für eigene Fehler zu erarbeiten und mit Misserfolg umzugehen. Beim Loslassen perfektionistischer Verhaltensweisen geht es auch nicht darum, optimale Ergebnisse gegen mittelmäßige Performance auszutauschen und sich nur noch mit einem geringeren Standard zufrieden zu geben. Es geht vor allem um die Einsicht, dass Perfektion ein fiktives und subjektives Konstrukt ist. Dadurch ist es auch unmöglich, Perfektion überhaupt zu erreichen. Dazu gehört, dass das Erbringen von ständiger Höchstleistung einen negativen Einfluss auf die mentale und physische Gesundheit hat. Perfektionisten, die sich von ihren Verhaltensweisen abwenden wollen, sollten daher lernen, sich selbst trotz vermeintlicher Unvollkommenheit anzunehmen und ihr Selbstwertgefühl nicht von ihrer Leistung abhängig zu machen. Dazu gehört auch, die eigenen Schwächen zu akzeptieren und sich auf Erfolge, anstatt auf Fehler zu konzentrieren.
Löst der dysfunktionale Perfektionismus allerdings weitere krankhafte Erscheinungsbilder aus und fühlen sich Betroffene dadurch chronisch müde, gestresst und überlastet, ist eine Therapie sinnvoll. Oft wird Perfektionisten erst spät klar, dass sie Hilfe in Anspruch nehmen sollten. Sie neigen dazu zu glauben, die Situation auch allein lösen zu können. Zieht sich diese Einstellung zu lange hinaus, können sich Krankheitsbilder verschlimmern und die Lebensqualität lässt nach. Eine Konsultation beim Hausarzt ist als erster Schritt die Möglichkeit, eine fachliche Einschätzung zur Situation zu erhalten. Daraufhin kann eine Überweisung zu einem psychologischen Facharzt erfolgen. Eine kognitiv orientierte Verhaltenstherapie zeigt oftmals gute Erfolge. Diese Therapieart beschäftigt sich mit den Gedanken, die ein bestimmtes Verhalten bei Perfektionisten begleiten. Ziel ist es, Misserfolge zu akzeptieren und konstruktiv mit ihnen umzugehen.
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